Neue Solidarität nach der Pandemie

Gastbeitrag in der BaZ vom 17. April 2020

Die Schweiz und die EU: Ein nur nationales Konjunkturprogramm wird es nicht richten.

Man hört es in der Schweiz nicht gern, wenn europäische Länder uns als Rosinenpicker im europäischen Gefüge benennen. In der Pandemie-Krise ist das etwas entspannter, es geht jetzt um Gesundheit, Leben oder Tod. Da ist jede gegenseitige Hilfe willkommen, denn allein schafft das ja kein Land. 

Die globale Pandemie ist für uns zuerst eine europäische Pandemie. Es trifft den ganzen Kontinent – auch das Rosinenpicker-Land. Dieses kleine starke Land kann allein auch nicht mehr bewirken als das, was die anderen europäischen Staaten auch können: Lockdown, Isolation, Stay at home, Erhalt der gesundheitlichen Versorgung. Doch da sind auch neue Chancen der Zusammenarbeit möglich. 

Werden wir sie packen – oder weiterhin antieuropäisch (wir haben ja vor drei Jahrzehnten den EWR-Beitritt abgelehnt) von uns stossen? Zuerst einmal war da erheblich Unruhe zu Beginn der Corona-Krise. Alle europäischen Länder waren ungenügend auf die Pandemie vorbereitet. Zu wenig medizinisches Material überall. Deutschland wollte den Warenfluss stoppen und siehe da, die EU-Kommission mahnt zur Vertragstreue: Der freie Warenverkehr darf nicht eingeschränkt werden. 

Hätte Deutschland nicht gespurt, die EU-Kommission hätte ihr Mitgliedsland vor den Kadi gerufen: vor den Europäischen Gerichtshof. Das ist das Gericht, das in der Schweiz von vielen als europäische Rechtsprechungsinstanz nicht akzeptiert werden will. Die Klageandrohung allein und ein paar freundliche Telefonate aus der Schweiz genügten. Der freie Warenverkehr bei den medizinischen Gütern wird gewährt. 

Nach dem Warentransport-Scharmützel kommt die europäische Solidarität zurück. Die Schweiz übernimmt in Grenzregionen Covid-19-Patienten aus Nachbarstaaten. Gleiches passiert zwischen den anderen europäischen Ländern. Die Schweiz hilft bei Rückführungsaktionen und füllt die Repatriierungsflüge mit anderen Staatsangehörigen. Der Schweizer Gesundheitsminister darf an den Konferenzen der EU-Gesundheitsminister temporär dabei sein – ohne vertragliche Formalitäten. Die Erkenntnis macht sich breit, dass man dieses Schicksal nur gemeinsam bewältigen kann.

Die Schweiz schickt ihre Forscher in europäische und internationale Programme, dank den Programmbeteiligungen, die man früher mit der EU vereinbart hatte. Ich erlebe ein Europa, das sich gegenseitig hilft. Ich erlebe ein Europa, das weiss, dass nur gegenseitige Solidarität uns voranbringt. Wenn alle zusammenwirken, dann können wir etwas bewegen. Der Hashtag #StrongerTogether ist keine Floskel, sondern die reale europäische Erfahrung.

Ab Ende April soll nun der Pandemie-Lockdown sorgfältig aufgelöst werden. Bis der europäische Binnenmarkt wieder seine volle Kraft entfalten kann, wird es Monate dauern. Vielleicht gelingt es auch erst, wenn wir Impfstoffe oder bessere medikamentöse Behandlungswege sehen. 

Alle Länder wissen das und lancieren zuerst einmal eine einzelstaatliche Stabilisierungsrunde: Krisen-Liquidität für die Unternehmen, Kurzarbeitsregelungen für Arbeitnehmende, Selbstständige. Auch indirekt Betroffene erhalten Hilfe. Niemand soll vergessen gehen, und wo es noch nicht klappt, müssen wir parlamentarisch noch nachjustieren.

Für die schweizerische Volkswirtschaft ist die Wiederbelebung des europäischen Binnenmarktes eine der wichtigsten Zielsetzungen für die Zeit nach der Pandemie. Es wird nach der Krise nicht anders sein: Wir sind eine international vernetzte Exportnation und wir wissen, dass vor der Krise jeden Tag eine Milliarde Schweizer Franken Handelsvolumen zwischen der Schweiz und den EU-Mitgliedsstaaten bestand.

Nur ein nationales Konjunkturprogramm wird es daher nicht richten, wenn im europäischen Binnenmarkt die Nachfrage bescheiden bleibt. Es wird darum gehen, ob alle europäischen Länder zusammen den europäischen Kontinent wieder wirtschaftlich aufbauen und stimulieren können.

Es ist eine Chance, jenseits von EU-Mitgliedschaft, jenseits von EWR-Mitgliedschaft und jenseits von einem schweizerischen Binnenmarkt-Assoziierungsabkommen, diesen Aufbau gemeinsam und europäisch-solidarisch an die Hand zu nehmen.

Die Schweiz hat in der Efta die stärkste politische Übereinstimmung. Sie sollte ein solidarisches Efta-Aufbauinstrument nach der Corona-Pandemie anstossen und vertraglich entwerfen. Abseitsstehen und warten, ob die anderen – insbesondere die EU-Mitgliedsstaaten – den Binnenmarkt wieder zum Laufen bringen, ist nicht angezeigt.

Man kann dieses Mal nicht warten, bis der Kuchen wieder wächst, und dann obendrauf die Rosinen wegpicken. Wir sind ein europäisches Land. Es ist nicht «ihre» Aufgabe, es ist unsere gemeinsame europäische Verpflichtung und Chance. 

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